„Männlich als Norm“ – Wie die Medizin Frauen systemtaisch übersieht

„Männlich als Norm“ – Wie die Medizin Frauen systemtaisch übersieht

Im Gesundheitswesen herrscht ein grundlegendes Problem: Medizinische Forschung, Diagnosekriterien und Behandlungsprotokolle orientieren sich überwiegend an männlichen Patienten. Diese „Männlich-als-Norm“-Verzerrung hat weitreichende Folgen – sie führt zu Fehldiagnosen, Unterversorgung und falschen Therapien. Während Frauen häufig unterdiagnostiziert werden, weil ihre Symptome vom männlichen Standard abweichen, erhalten Männer bei „typischen Frauenkrankheiten“ oft nicht die nötige Aufmerksamkeit.

Die Forschungslücke

Historisch gesehen konzentrierte sich die medizinische Forschung vor allem auf männliche Probanden – sowohl in Tierversuchen als auch in klinischen Studien. Die Begründung: Frauen seien aufgrund ihrer Hormonschwankungen „schwieriger“ zu untersuchen. Doch diese Auslassung hat gravierende Konsequenzen. Dosierungen, Nebenwirkungen und Behandlungserfolge basieren meist auf der männlichen Physiologie, was bedeutet, dass Medikamente für Frauen oft nicht optimal wirken. Gleichzeitig werden Krankheiten, die vorwiegend Frauen betreffen – wie Endometriose oder bestimmte Autoimmunerkrankungen – weniger erforscht, weil sie als „Nischenprobleme“ gelten.

Diagnostische Verzerrungen

Frauen erleben im Gesundheitswesen häufig eine doppelte Benachteiligung: Einerseits werden ihre Symptome oft nicht ernst genommen, andererseits gelten sie schneller als „psychosomatisch“. Ein klassisches Beispiel sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Während Männer bei einem Herzinfarkt meist starke Brustschmerzen haben, leiden Frauen eher unter Übelkeit, Kurzatmigkeit oder Müdigkeit – Symptome, die leicht übersehen werden. Die Folge: Frauen erhalten später Hilfe und haben ein höheres Risiko, an Herzinfarkten zu sterben.

Doch auch Männer sind betroffen. Osteoporose gilt als „Frauenkrankheit“, obwohl jeder fünfte Betroffene männlich ist. Ebenso werden Autoimmunerkrankungen wie Lupus bei Männern oft spät erkannt, weil sie als typisch weiblich gelten.

Behandlungsungleichheiten

Die „Männlich-als-Norm“-Verzerrung zeigt sich besonders deutlich in der Schmerztherapie. Studien belegen, dass die Schmerzen von Frauen häufiger unterschätzt und weniger effektiv behandelt werden. Statt angemessener Schmerzmittel erhalten sie oft Beruhigungsmittel oder Antidepressiva – ein Relikt aus Zeiten, in denen Frauenleiden pauschal als „Hysterie“ abgetan wurden.

Gleichzeitig deuten Untersuchungen darauf hin, dass Männer bei bestimmten Erkrankungen aggressivere Therapien erhalten als Frauen mit ähnlichen Symptomen. Diese Ungleichheit verschärft die gesundheitliche Benachteiligung von Frauen zusätzlich.

Systemische Probleme

Die Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen der medizinischen Forschung und in Redaktionsgremien wissenschaftlicher Zeitschriften verstärkt die Verzerrung. Forschungsprioritäten werden oft von Männern gesetzt, was dazu führt, dass frauenspezifische Gesundheitsfragen weniger Beachtung finden.

Hinzu kommt die Intersektionalität: Frauen of Color, Transgender-Personen oder sozial benachteiligte Frauen erleben häufig eine Mehrfachdiskriminierung. Ihre Schmerzen werden noch seltener ernst genommen, und der Zugang zu adäquater Versorgung ist erschwert.

Was sich ändern muss

Um diese Ungerechtigkeiten zu beseitigen, braucht es einen grundlegenden Wandel:

  • Diversität in der Forschung: Studien müssen gezielt Frauen und diverse Bevölkerungsgruppen einbeziehen.
  • Geschlechtersensible Diagnostik: Ärzt:innen sollten für geschlechtsspezifische Symptome sensibilisiert werden.
  • Mehr Frauen in Führungspositionen: Die medizinische Forschung braucht vielfältige Perspektiven, um gerechter zu werden.

Erst wenn die „Männlich-als-Norm“-Verzerrung erkannt und aktiv bekämpft wird, kann das Gesundheitssystem allen Menschen gleichermaßen gerecht werden.

Fazit

Die Bekämpfung der „Männlich als Norm“-Diagnostikverzerrung im Gesundheitswesen erfordert einen umfassenden Ansatz, der Folgendes umfasst:

  • Diversifizierung der Forschungssubjekte und Analyse der Daten nach Geschlecht.
  • Entwicklung geschlechtsspezifischer Diagnosewerkzeuge und Behandlungsprotokolle.
  • Schulung von Gesundheitsdienstleistern zur Erkennung von Geschlechtsunterschieden bei Symptomen.
  • Förderung einer inklusiven Forschungsfinanzierung und Führungsrepräsentation. 

Durch die Anerkennung und Beseitigung dieser Verzerrungen können Gesundheitssysteme allen Patienten eine genauere, gerechtere und wirksamere Versorgung bieten. 

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Quellen

  1. Department of Health & Social Care, UK (2022). “Women’s Health Strategy for England.” (Policy paper, updated 30 Aug 2022).
  2. Jackson, G. (2019). “The female problem: how male bias in medical trials ruined women’s health.” The Guardian, 13 Nov 2019.
  3. Mahase, E. (2023). “The gender pain gap: Why it’s time to take women’s health more seriously.” BBC Science Focus, 3 May 2023.
  4. Merone, L. et al. (2022). “Sex Inequalities in Medical Research: A Systematic Scoping Review of the Literature.” Women’s Health Reports 3(1): 49–59.
  5. Nordell, J. (2021). “The bias that blinds: why some people get dangerously different medical care.” The Guardian (Long Read), 21 Sep 2021.
  6. Press Association (2016). “Women 50% more likely to be misdiagnosed after heart attack – study.” The Guardian, 29 Aug 2016.
  7. Regensteiner, J.G. et al. (2025). “Barriers and solutions in women’s health research and clinical care: a call to action.” Lancet Regional Health – Americas 44 (Apr 2025): 101037.
  8. The Guardian Editorial (2025). “Bias in medical research: disregard for women’s health belongs in the past.” The Guardian, 7 May 2025.

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